Die Rhythmen des Lebens im Mittelalter / Les rythmes de la vie au Moyen Âge

Die Rhythmen des Lebens im Mittelalter / Les rythmes de la vie au Moyen Âge

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris in Kooperation mit der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris, der University of California, Los Angeles und mit finanzieller Unterstützung durch die Deutsch-Französische Hochschule
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
26.06.2006 - 28.06.2006
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Von
Anika Berenschot, Julia Wambach und Alex Winter

Das zentrale, an der Schnittstelle von Anthropologie und Kulturwissenschaften angesiedelte Thema der Lebensrhythmen stand im Mittelpunkt der diesjährigen mediävistischen Sommeruniversität, zu der das Deutsche Historische Institut Paris eingeladen hatte. Zwanzig Nachwuchswissenschaftler/innen aus verschiedenen Ländern, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum und Frankreich, aber auch aus den USA, Brasilien, den Niederlanden und Israel, stellten drei Tage lang die Ergebnisse ihrer historischen und literaturwissenschaftlichen Forschungen vor. Alle Vorträge wurden von einem/r Teilnehmer/in der jeweils anderen Muttersprache kommentiert und anschließend zur Diskussion gestellt. Die weit gefassten Themenkomplexe deckten zentrale Lebensbereiche der mittelalterlichen Gesellschaft, wie etwa Liturgie, Krieg und das höfische Leben, ab.

Den Eröffnungsvortrag übernahm Jean-Claude SCHMITT (Paris). Er unterstrich, dass die Frage nach den Rhythmen eine zentrale Rolle in der Gesellschaft spiele. Im Folgenden definierte er Rhythmen als Lebensmodalitäten der Individuen in der Gesellschaft und stellte die Frage, inwieweit es überhaupt Rhythmen ohne Arhythmus geben könne. Schließlich unterschied SCHMITT zwischen drei großen Ensembles: les rythmes fondamentaux (grundlegende Rhythmen), l’ordre rythmique (rhythmische Ordnung) und le rythme de l’Histoire (Rhythmus der Geschichte).

Auf Liturgische Rhythmen richtete sich das Augenmerk der ersten Themensektion, durch die Dominique IOGNA-PRAT (Paris) als Sitzungsleiter führte. Dana POLANICHKA (Los Angeles) stellte einen Aspekt ihrer Dissertation unter dem Titel „Approaching the Divine: The Restriction and Fluidity of Sacred Space in Carolingian Churches“ vor. Anhand von zwei unterschiedlichen Quellentypen - Einhards Translatio und dem Grundriss des Klosters Sankt Gallen - untersuchte sie die Beziehung zwischen Laien und Klerus in der Liturgie zur Zeit der karolingischen Kirchenreform. Die steigende Distanz zwischen Klerus und Laien werde in der Architektur durch die Konstruktion von soliden Trennmauern sichtbar. Jedoch zeigte Dana POLANICHKA in ihrer Analyse der Quellen auf, dass eine Diskrepanz in der Umsetzung der Reformen bestehe, da laut Einhards Translatio Laien und Klerus im sakralen Bereich der Kirche in Seligenstadt sehr wohl interagierten. In seinem Kommentar schlug Eduardo Henrik AUBERT (São Paulo und Paris) vor, die sozialen und liturgischen Praktiken sowie den Rhythmus der Berührungspunkte zwischen Klerus und Laien in der Gesellschaft stärker in Betracht zu ziehen.

Philippe CORDEZ (Paris) beschäftigte sich in seinem Vortrag „Les objets et le temps“ mit der Frage nach der Zeitlichkeit der Objekte, die im Mittelalter von einer doppelten Dimension bestimmt seien: einem zyklischen, rituellen Moment (temps rituel cyclique) und einer historisch linearen Perspektive (perspective historique linéaire). Er interessierte sich besonders für die Existenz der Objekte in der Zeit, welche er am Beispiel der liturgischen Verwendung von Reliquien aufzeigte. In ihrem Kommentar unterstrich Susanne REICHLIN (Zürich) die Tatsache, dass Objekte gerade wegen ihrer scheinbaren Unzeitlichkeit zeitlich seien und den Rhythmus des Lebens und der Zeit ausdrückten. Jean-Claude SCHMITT vertrat die Meinung, dass die Zeit eine Unterkategorie des Rhythmus sei und wies die von CORDEZ zugrunde gelegte These Peter von Moos’ zurück, wonach der Rhythmus die Zeit bestimme.

„Soziale Positionierung und visuelle Identitäten – Zur Liturgie in hochmittelalterlichen Frauenstiften“ lautete der Beitrag von Katharina MERSCH (Göttingen). Sie untersuchte den Liber Ordinarius des ottonischen Frauenstifts Essen im Hinblick auf die Verwendung von liturgischen Objekten im Ablauf des Kirchenjahres. Ihrer Ansicht nach diene die Liturgie im Frauenstift Essen nicht nur religiösen Zwecken, sondern auch der Darstellung der Gemeinschaft, sodass sie sich fragte, ob „verordnete Rhythmen“ zu „kollektiven Rhythmen“ avancieren könnten. Margo STROUMSA-UZAN (Negev) schlug in ihrem Kommentar zwei weitere Forschungsperspektiven vor: die Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie die Rolle und Bedeutung der Äbtissinnen. Patrick GEARY (Los Angeles) erkundigte sich nach dem Aufbewahrungsort der Objekte außerhalb ihrer liturgischen Verwendung. Diesbezüglich unterstrich Katharina MERSCH, dass die „Goldene Madonna“ sich das Jahr über auf dem Altar befunden habe, die Präsenz anderer liturgischer Objekte jedoch lediglich zu den Zeremonien anzunehmen sei. Die Quellen geben leider keine weitere Auskunft über die Aufbewahrungsorte.

Matthias KLIPSCH (Marburg) stellte sein Dissertationsprojekt „Fasten und Fastendispense im spätmittelalterlichen Europa“ vor. Er beschäftigte sich mit der Herkunft und der Ausprägung der spätmittelalterlichen Fastenordnung und ging anschließend auf seine Hauptquelle, die Fastendispense, ein. Jean-Baptiste RENAULT (Nancy) merkte an, dass die Fastenzeiten den alltäglichen Rhythmus der Gesellschaft bestimmten. Im Folgenden stellte er die Frage, inwieweit die in den Fastendispensen vorgebrachten Begründungen (z.B. hohes Alter) der Wahrheit entsprächen. KLIPSCH ging von der Ehrlichkeit der Bittsteller aus und verwies auf andere Quellen, die diese Tatsache belegen könnten (wie etwa Altersangaben der Äbte). Des Weiteren erwähnte Matthias KLIPSCH, dass die Kirche dem Gesuch stattgebe, die Bittsteller aber ihrem eigenen Gewissen verpflichtet seien. Werner PARAVICINI (Direktor des DHI Paris) wunderte sich über die geringe Anzahl der genehmigten Fastendispense: Liege dies an der Strenge der Römischen Kurie oder gebe es andere für Dispense zuständige lokale Autoritäten? KLIPSCH ergänzte daraufhin, dass auch lokale Bischöfe diese erteilen könnten. Die Diskussion kreiste im Folgenden um die mehr oder weniger strikte Einhaltung des Fastens in Klöstern.

Die zweite, von Martine CLOUZOT (Dijon) geleitete Sektion beschäftigte sich mit dem Thema Rhythmus und Ritual. Dominic OLARIU (Paris) wählte in seinem Vortrag „Im Rhythmus zu Grabe getragen werden“ einen epochenübergreifenden Ansatz, indem er mittelalterliche Bestattungszeremonien mit antiken und neuzeitlichen Beerdigungsriten verglich. Dabei stellte er heraus, dass der Tod hoch stehender Persönlichkeiten die Gesellschaft in eine Krise stürze und die Rhythmisierung von Bestattungen zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung diene. Franck VILTART (DHI Paris) wies in seinem Kommentar auf die politische Dimension und die propagandistische Funktion von Begräbnisfeiern hin.

In seinem Exposé „Son et rythme au Moyen Âge“ ging Eduardo Henrik AUBERT (São Paulo und Paris) auf die klanglichen Aspekte (système sonore) im Ordo du sacre royal Ludwigs IX. ein, dem wesentlichen Quellentext zur Königsweihe von 1226. Hierbei war es ihm wichtig, die unterschiedliche Rolle des dicere und des cantare hervorzuheben. Das dicere sei eine Form der Rezitation zwischen Gesang und Gesprochenem. Der Wechsel zwischen dicere und cantare ergebe den Rhythmus der Zeremonie. Patrick GEARY merkte an, dass sich diese beiden Klangformen in der englischen Sprache in dem Unterschied zwischen den Vokabeln chant und sing niederschlage.

Die dritte Themensektion, Die Rhythmen des Hofs, stand unter der Leitung von Stefan WEISS (DHI Paris). Eric GODDARD (Madison) beleuchtete in seinem Vortrag „The Rhythm of Papal Provisions to the Norman Nation at the University of Paris“ den Zusammenhang zwischen den päpstlichen Provisionen für normannische Gelehrte und deren politischen Beziehungen zum Papsttum von Avignon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Trotz ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Avignon und ihrer zahlenmäßigen Minderheit erhielten die Normannen kontinuierlich die höchsten Provisionen, das heißt kirchliche Benefizien, seitens des Papstes.

Nicola NORTMEYER (Tübingen), die erst am Anfang ihres Forschungsvorhabens steht, fragte in ihrem Exposé „Beharrungsvermögen und Erneuerungsstreben im Sozialsystem Hof“ nach den sozialen Beziehungen innerhalb des spätmittelalterlichen Frauenhofs und besonders nach der personellen Zusammensetzung des Frauenhofs und den Kompetenzen der einzelnen Hofdamen. In ihrem Kommentar regte Pascale RIHOUET (Paris) an, den Strukturansatz von Norbert Elias mit Fragen nach Etikette und sozialen Netzwerken in ihrer Arbeit zu berücksichtigen. Werner PARAVICINI unterstrich, dass im Gegensatz zum männlichen Hofstaat die Zeit der Ehrenjungfrauen am Hof auf die Adoleszenz beschränkt gewesen sei.

„Verordneter Taktwechsel? Die Rhythmen eines sich neu konstituierenden Hofes am Beispiel der Hofordnung Markgraf Johann Ciceros von Brandenburg von 1470“ lautete der Titel des Vortrages von Volker OHLENSCHLÄGER (Tübingen). Er untersuchte die kollektiven Rhythmen des Hofes an zwei Gesichtspunkten: zum einen im Hinblick auf die logistische Herausforderung, zum anderen im Bezug auf das alltägliche Leben der Hofangehörigen. In der anschließenden Diskussion gab Werner PARAVICINI zu bedenken, dass mittelalterliche Hofordnungen als Quelle mit Vorsicht anzugehen seien und dass aus ihnen die Rhythmisierung des alltäglichen Lebens nicht hervorgehe.

Sarah LAZARO (Avignon) wertete in ihrem Exposé „Rythmes de la liturgie. Rythmes de la cérémonie du sacre au Moyen Âge, l’évêque, le pape, le roi“ Quellen des 13. Jahrhunderts zur Liturgie der Weihe (sacre) aus. Dabei stellte sie heraus, dass erst der Rhythmus einer Zeremonie sakralen Charakter verleihe und dass im Laufe des Jahrhunderts eine „explosion liturgique“ zu beobachten sei. Geregelt seien alle Bereich der Liturgie, wie zum Beispiel die Einführung in kirchliche Ämter oder der minutiöse Ablauf der Weihe. In ihrem Kommentar betonte Franziska ZIEP (Berlin) den Konflikt zwischen festgeschriebenen und ausgeführten Rhythmen sowie den Einfluß von Lebensrhythmen auf die Liturgie.

Der Nachmittag des zweiten Tages war einer Exkursion gewidmet. Jean CHAPELOT (Paris) ermöglichte den Besuch von Überresten mittelalterlicher Kollegien im Quartier Latin. Auf der von ihm geleiteten Exkursion zum Thema „Die Pariser Universitätsgebäude des 13. und 14. Jahrhunderts“ besichtigten die Teilnehmer den Konvent der Franziskaner in der rue de l’École de médecine („Cordeliers“) und das Kolleg von Dormans-Beauvais, das heute als rumänisch-orthodoxe Kirche genutzt wird. Den Höhepunkt bildete der Besuch der Niederlassung der Zisterzienser („Bernardins“) aus dem 13. Jahrhundert. Letztere wurde bis vor kurzem als Feuerwehrwache verwendet und soll nun durch Restaurierungsarbeiten seinen ursprünglichen Charakter wiedererlangen.

In der achten Themensektion, die von Pierre MONNET (Paris) geleitet wurde, ging es um Rhythmen und städtische Identitäten. Alexandra GALLO (Aix-en-Provence) untersuchte in ihrem Vortrag „Les rythmes de la politique communale – du registre du conseil à la communauté urbaine“ das Zusammenwirken von städtischen Rhythmen und Zyklen der Natur. Am Beispiel der Stadtregierung von Sisteron im 14. Jahrhundert machte sie deutlich, wie der saisonale Wechsel der behandelten Themen (beispielsweise Jagd, Weinlese) in Krisenzeiten (Krieg, Hungersnöte) durchbrochen wurde. In seinem Kommentar stellte Volker OHLENSCHLÄGER die Frage, inwieweit der Rat lediglich eine reaktive Funktion ausgeübt habe. Zu diesem Problemfeld bemerkte Jean-Claude SCHMITT, dass die rein reaktive Funktion der kommunalen Regierungen ein allgemeines Problem der Politik im Mittelalter darstelle. Werner PARAVICINI betonte die Bedeutung der Erneuerung von Bürgereid und Ratssitzung in jährlichem Rhythmus.

Die Funktion der Prozessionen und Bruderschaftsbanner stand im Mittelpunkt des Beitrages „Rythmes collectifs: processions et bannières de confréries dans l’Ombrie de la fin du Moyen Âge“ von Pascale RIHOUET (Paris). Die Besänftigung des Zorns Gottes sei die wesentliche Funktion der Prozessionen gewesen, die zu regelmäßigen Festlichkeiten oder außergewöhnlichen Ereignissen (Naturkatastrophen) stattfanden. Gleichzeitig spiegle sich in den Prozessionen die soziale Hierarchie wider. Der Ablauf folge einem strengen Ritus, in dem Gegenstände mit Symbolcharakter eine wesentliche Rolle spielten (Banner, Kerzen, Baldachin). Nicola NORTMEYER zog in ihrem Kommentar den Vergleich zu anderen europäischen Städten (z.B. Nürnberg), in denen ähnliche Prozessionen stattfanden.

Die vierte, von Dominique BARTHÉLEMY (Paris) geleitete Sitzung trug den Titel Die Rhythmen der Sprache und der Bilder. Als erster Referent fragte Jean-Baptiste RENAULT (Nancy) in seinem Vortrag „Rythmes et rimes dans les actes privés du XIe siècle: esquisse d’une interprétation à partir de l’exemple provençal“ nach den Funktionen der gereimten Form der provenzalischen Urkunden. Da diese öffentlich vorgetragen wurden, sei die Aufmerksamkeit der Zuhörer erregt worden; gleichzeitig habe die Reimform der „Mnemotechnik“ (Michel Zimmermann) gedient. Zudem verstärke der Rhythmus des lauten Vortragens die Autorität der Urkunde. In seinem Kommentar fragte Matthias KLIPSCH, ob die Urkunden vor einem großen Laienpublikum vorgetragen worden seien, was RENAULT jedoch ausschloss; eine Übersetzung für Laien sei zu vermuten.

Margo STROUMSA-UZAN (Universität Ben-Gurion von Negev) beschäftigte sich in ihrem Exposé mit „Les rythmes du temps dans les enluminures des psautiers-heures“. Sie stellte heraus, dass man an den Psalter-Stundenbüchern die Position der Frau in der Gesellschaft sowie die weibliche Pietät in der Marienverehrung ablesen könne. Sie unterstrich außerdem den Willen der Laien, sich mit den Psalter-Stundenbüchern einen eigenen, von den Klerikern unabhängigen Raum für ihre Pietät zu schaffen. Katharina MERSCH erkundigte sich in ihrem Kommentar, ob die spezifisch weibliche Religiosität nicht eine Reaktion auf die Marginalisierung der Frau im Spätmittelalter gewesen wäre.

„Les rythmes du texte et des images dans les manuscrits de la bible moralisée“ war das Thema von Babette HELLEMANS (Utrecht). Sie untersuchte den Rhythmus der Bilder und die Rolle des Textes bei der Seitengestaltung der „Bible moralisée“. HELLEMANS fand heraus, dass eine Interaktion zwischen diesen beiden Faktoren bestehe, die zu einer dynamischen, nicht chronologischen „lecture brisée“ führe, die ihrerseits wiederum den besonderen Rhythmus der „Bible moralisée“ deutlich werden lasse. Katharina BEHRENS fragte in ihrem Kommentar nach dem konkreten Ablauf der „lecture brisée“. HELLEMANS erklärte, dass eine tatsächliche Lektüre der „bible moralisée“ vermutlich nie stattgefunden habe. Die folgende Diskussion stellte einen Bezug zum Vortrag von CORDEZ her (die „Bible moralisée“ als „objet dans le temps“).

Die Themensektion Die Rhythmen der Generationen wurde von Jean-Claude SCHMITT geleitet. Susanne REICHLIN (Zürich) stellte einen Aspekt ihres literaturwissenschaftlichen Dissertationsvorhabens unter dem Titel „Der Tausch zwischen den Generationen und die Rhythmisierung des Erzählens“ vor. Sie sah in Tauschgeschäften mit verschiedenen Objekten (z.B. Geld, Tiere, Minne) und zwischen den Generationen (z.B. älterer und jüngerer Ritter) eine Rhythmisierung der Texte, die im Erzählverlauf der von ihr untersuchten Mären gebrochen werde. Das Interesse dieser Analyseform entstehe aus dem Unterschied zwischen dem objektiven Rhythmus des Textes und der subjektiven Rhythmuserfahrung des Lesers. Philippe CORDEZ gab zu bedenken, dass es im Französischen keine äquivalente Übersetzung für den deutschen Begriff „Rhythmisierung“ gebe. Die folgende Diskussion verwies auf die Auflösung des „Generationenvertrages“ im 14. Jahrhundert und dem daraus folgenden Ersatz der familiären durch materielle und vertragliche Bindungen.

Der Vortrag von Franziska ZIEP (Berlin) „Rhythmuswechsel – Zur Variation des Genealogischen in Prosaromanen der Frühen Neuzeit“ erläuterte, dass im Übergang von mittelalterlichen zu frühneuzeitlichen Texten die Bedeutung von Körperlichkeit bei genealogischen Entwürfen zugunsten von kulturellen Setzungen abnehme. Sarah LAZARO kritisierte, dass man nicht die Rolle der Blutsverwandtschaft in Genealogien seit dem 15. Jahrhundert vernachlässigen könne, da deren Bedeutung weiter fortbestehe. Doch sei die Möglichkeit genealogischer Brüche und Konstruktionen gegeben. Die Diskussion beleuchtete den Aspekt, dass genealogische Identitäten sich in der mittelalterlichen Vorstellung vom Jüngsten Gericht auflösten, denn dort existiere keine Verwandtschaftssolidarität mehr und jeder verantworte sich selbst.

Die letzte Themensektion trug den Titel Rhythmen von Krieg und Revolte. Den Vorsitz hatte Philippe CONTAMINE (Paris). Im ersten Exposé dieser Themensektion „Rhythmen des Kampfes. Zur narrativen Verlebendigung einer Körpererfahrung in höfischen Text- und Bildzeugnissen“ stellte Nadia GHATTAS (Berlin) einen Teil ihres Promotionsvorhabens vor. Sie erklärte, dass in antiker und mittelalterlicher Vorstellung die Wahrnehmung von Rhythmen mittels der Resonanz des Körpers vonstatten gehe. Diese Resonanz rufe wiederum die Erinnerung an diese Rhythmen auf, die in der memoria des Hörers oder Lesers gespeichert seien. GHATTAS veranschaulichte dies anhand von Texten (z.B. dem Rolandslied des Pfaffen Konrad) und Bildzeugnissen (z.B. dem Teppich von Bayeux) des 12. Jahrhunderts. Eric GODDARD fragte in seinem Kommentar, welche Quellenauswahl diesem vorgestellten Analysemodell zugrunde liege. Nadia GHATTAS erläuterte, dass sich prinzipiell jedes Zeugnis für eine Bewegungsanalyse eigne, insbesondere aber das 12. Jahrhundert mit seinem Übergang von oraler zu literaler Kultur.

„Marcher, attendre, combattre: les temps de la guerre à la fin du Moyen Âge“ war das Thema von Franck VILTARTs Beitrag (DHI Paris). Er untersuchte die spezifischen Rhythmen in Truppenlagern und stellte fest, dass der alltägliche Lebensrhythmus der Menschen unterbrochen und ein Kriegsrhythmus etabliert werde. Die zeitliche Rhythmisierung innerhalb der Truppenlager ermögliche eine Disziplinierung der dortigen Bevölkerung, wodurch man effizienter einen Krieg führen wollte. In seinem Kommentar stellte Dominic OLARIU die Frage, ob man den Rhythmus eines langen Krieges noch als Kriegsrhythmus sehen könne oder schon als Lebensrhythmus bezeichnen müsse. Dies führte in der Diskussion zu der Feststellung, dass die Notwendigkeit einer Militarisierung der Bevölkerung bestehe, gleichzeitig aber ein Alltagsleben aufrechterhalten werde.

In ihrem Vortrag „Im Rhythmus von Individualität und Kollektivität – Scham und Schande im spätmittelalterlichen England“ beschäftigte sich Katharina BEHRENS (Göttingen) mit den Zusammenhängen zwischen individueller ‚Scham’ und ihrem kollektiven Pendant, der ‚Schande’. Am Beispiel der englischen Bauernrevolte von 1381 fragte sie, welche Bedeutung Scham und Schande in der hierarchischen Ordnung der spätmittelalterlichen englischen Gesellschaft zukam. Babette HELLEMANS unterstrich in ihrem Kommentar die Spannung zwischen dem Kollektiv und dem Individuum sowie die Schwierigkeit der Terminologie von ‚Scham’, die das Thema der darauf folgenden Diskussion beherrschte.

„Anything can be put into the context of rhythm” war der Hauptgedanke des Fazits von Patrick GEARY. In diesem Sinne erwähnte er zahlreiche Beispiele für Rhythmisierung, welche stets durch den Menschen geschaffen sei. Beginnend mit der Struktur des Sommerkurses, die sich etwa im Tagesablauf, dem Wechsel der Sprachen und Themen und der Abfolge von Vortrag, Kommentar und Diskussion äußerte, rekapitulierte er die vergangenen drei Tage im Zeichen des Rhythmus. Er rief die drei Kategorien Jean-Claude SCHMITTS in Erinnerung, in die man alle gehörten Beiträge jeweils einordnen könne. Ebenso wesentlich wie die Aufstellung von Rhythmen sei für das menschliche Leben der Bruch mit ihnen. Auch gebe es Spannungen zwischen verschiedenen Rhythmen, in deren Dissonanz man dennoch eine Harmonie finden könne.

Patrick GEARY rief abschließend die Teilnehmer/innen auf, sich den Wert eines Sommerkurses unter dem Titel „Die Rhythmen des Lebens im Mittelalter“ für sie als Wissenschaftler/innen, für die Geschichtswissenschaft bzw. für die Gesellschaft zu vergegenwärtigen. Er schlug vor, die während des Sommerkurses begonnene Diskussion bei weiteren Treffen zu vertiefen und den Kontakt zwischen den internationalen Teilnehmern aufrechtzuerhalten.

Werner PARAVICINI eröffnete die Abschlussdiskussion mit der Bemerkung, dass Rhythmus nur leben könne, indem er gebrochen werde. Es sei jedoch nie das Ziel der Gesellschaft, einen Arhythmus zu schaffen. Bei der Diskussion der Teilnehmer/innen kamen folgende wesentliche Anmerkungen zur Sprache: Zu Beginn wurde die Frage nach spezifischen Rhythmen des Mittelalters, die sich von denen anderer Epochen unterscheiden, erörtert. Sicherlich gebe es Rhythmen, die über alle Epochen konstant blieben, jedoch seien auch unterschiedliche Rhythmen innerhalb einer Epoche feststellbar (beispielsweise abhängig vom politischen System). Man solle die parallelen Rhythmen von gestern und heute entdecken, wie etwa den Typus des Heiligen, der sich in der Inkarnation des Popstars heute genauso finden lasse. Zu diesem Thema kristallisierten sich zwei verschiedene Meinungen heraus. Die eine Seite betonte die Kontinuität bestimmter Rhythmen (biologische Rhythmen, die den Menschen determinieren), im Gegensatz zu kulturellen Rhythmen, die der Mensch bestimmt. Die andere Seite unterstrich, dass jegliche Rhythmen vom Menschen und von der Zeit determiniert seien. Selbst Geburt und Tod seien nicht allgemeingültig, sondern variieren je nach Kultur und Zeit in der Wahrnehmung (in der Vorstellung einiger Indianervölker Südamerikas liege die Zukunft hinter ihnen und die Vergangenheit vor ihnen). Des Weiteren spreche man im Mittelalter eher körperlich über Rhythmus, wohingegen heute der rationale Aspekt überwiege. Häufig werde auch das Mittelalter gegenüber der heutigen Zeit als rhythmisierter dargestellt, jedoch treffe dies lediglich auf kollektive Rhythmen zu, denn die heutige Zeit sei durch individuelle Rhythmen strukturiert. Eine weitere Veränderung der Rhythmen seit dem Mittelalter liege in der Schnelligkeit als Wert an sich in der heutigen Gesellschaft. Als abschließender Aspekt der Diskussion wurde der Zusammenhang von Tod und Rhythmus angesprochen. Der Tod habe von Natur aus keinen Rhythmus. Da die Menschen dies nicht hinnehmen könnten, schafften sie beispielsweise durch Begräbniszeremonien eine Rhythmisierung des Todes. Dort, wo kein Rhythmus herrsche, müsse offenbar ein solcher hergestellt werden.

In seinem Schlusswort ging Jean-Claude SCHMITT nochmals auf wesentliche Punkte des Sommerkurses ein. Er erwähnte folgende Unterschiede mittelalterlicher Rhythmen zu den heutigen: Reisen sei langsamer vonstatten gegangen, im Jahr habe es eine höhere Anzahl von Feiertagen gegeben und auch der politische Rhythmus sei mit dem heutigen nicht vergleichbar. Gleichzeitig dürfe man nicht vergessen, dass es auch in unserer Zeit unterschiedliche Rhythmen gebe (beispielsweise geographisch, politisch oder kulturell bedingt). Darüber hinaus müsse man die verschiedenen Ebenen und Überschneidungen von Rhythmen berücksichtigen. So würden sich beispielsweise biologische und soziale Rhythmen gegenseitig bedingen. Die Zeitwahrnehmung betreffend stellte SCHMITT heraus, dass die Zukunft (futur) für die Menschen im Mittelalter durch die biblische Prophezeiung festgelegt gewesen sei und dass sich dann in der Renaissance ein neues Zukunftskonzept (avenir) herausbilde. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Rhythmus und Arhythmus ergänzte er den Begriff der idéorythmie (Roland Barthes), der das Auftreten individueller Rhythmen in Kollektiven meine.

Eingehend auf den Erkenntniswert des historischen Ansatzes von Rhythmen bemerkte Jean-Claude SCHMITT abschließend, dass der historien du rythme Phänomene beleuchten könne, auf die andere historische Disziplinen nicht eingehen würden.


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